Blattfeder und Zugriemen
Diese Woche erinnert mich Alexander an jenen Jungen, der zunächst die Klingel vom Taschengeld kriegt, später erst das eigene Fahrrad (bei Erich Kästner). Oder an meinen geistlichen Onkel Georg Wilhelm, der zu Zeiten seines geistlichen Amtes immer bescheiden WW fahren musste, trotz wohlgehäuften Familienerbes. Dafür lag in seinem Amtszimmer auf einem Regal immer eine Hupe, so eine mit Gummiblasebalg und Messing, zu der sich Onkel Georg Wilhelm gleich nach seiner Pensionierung einen Traum von Oldtimerkaufte. Baujahr 1935. Wie er selbst. Alexander war jetzt wie der Kästner-Junge und Onkel Georg Wilhelm, denn eine Kutsche hatte Alexander immer schon. Nur kein Pferd dafür. An dieser Kutsche wienerte er nun Anfang dieser Woche herum, denn Alexander feiert im Oktober Lehrer-Ferien. Ich fragte ihn, ob er doch nochmal Vater würde, etwa seine Frau ein spätes Kleines erwarte. (Alexanders Töchter sind eigentlich aus dem Haus, aber als diese Babys waren, wurden sie alle im Körbchen auf dieser Kutsche fotografiert und als Weihnachtspostkarte verschickt). Doch nein - Alexander und seine Frau erwarten kein Kleines, dafür Riesengroßes: Ein Kaltblut. Leichtes Kaltblut. Für die Kutsche. Die Woche - das sah ich wegen der Nachbarschaft - wurde ein Hochstress, denn Alexander hatte total unterschätzt, was die Kutschenzubehörbeschaffung und die Einkleidung eines Kaltblutes heutzutage für eine Aufgabe ist. Der Berg von vorhandenem Leder war schon hoch aber es fehlte alles Wichtige: Schulterblattriemen, passende Zugriemen zur Deichsel passend, Scheuklappen Kopfstück und Bauchgurt. Wenn nicht Christas 50. Geburtstag in Stederdorf gewesen wäre (Christas Mann ist Landwirt) - nichts hätte geklappt. Dort aber erfuhr er unter den vielen Landwirten und Lehrerinnen (Christa ist eine solche) eine heiße Adresse für alles Fehlende, und der robuste Name der kutschengeschirrbeschaffenden Firma in Bodenteich bürgte schon für kaltblutgerechte Lederbekleidung. Ein hilfsbereiter Mohammed sorgte für die speziellsten Schnallen und Gurte, Riemen und Peitschenstiel. Alles war fertig, das Pferd endlich da - doch dieses viel zu dick für die Deichsel. Wer erweitert einem im Jahre 2003 eine 120 Jahre alte Deichsel? „Unglaublich!", zeterte Alexander, „unglaublich, dass noch vor 120 Jahren alles nur mit Pferd und Wagen lebte - und heute wissen die Leute nicht mal, wo eine Schmiede ist, sondern nur ein Supermarkt. Dabei heißt die halbe Nation Schmidt oder Wagner." Alexander erregte sich echt. „Schmied und Geschirr muss man suchen wie ein ebenso schönes wie auch kluges Weib!" Tatsächlich, auch ich erinnerte mich, dass unser Milchmann und der Kohlenhändler in Celle mit Pferdewagen vorfuhren - und das war schon 1950. Doch auch für die Deichsel fand sich unter den neuen Bekanntschaften durch Christa ein Schmiedekünstler, und gestern fuhren sie los: Alexander, seine Frau und ein Kollegen-Ehepaar. Doch da dessen Mann auch nur Facharzt für menschliche Innereien war, mithin kaum Hilfe für Kutschenpannen gewesen wäre, fuhr noch Heiner als Kutschierkunst-Dozent mit. Stress pur hatte der arme Alexander in dieser Woche. Allerdings vertraute er mir heute an, dass hinterher, als aller Kutschenstress vorbei war, eine Entdeckung für ihn anstand. Denn eine Kutsche von damals ist für Liebespaare von heute mindestens so gut wie jener Ford im Paradiese.
21. Oktober 2003